#Habersaathstraße – Das Beratungsangebot endet – eine Bestandsaufnahme politischer Untätigkeit

Jetzt ist es amtlich: Ab Mai gibt es kein Beratungsangebot mehr für die Bewohner*innen der Habersaathstraße 40-48. Eine weiterführende Finanzierung durch den Bezirk ist nicht beabsichtigt, alle Gelder im Haushalt 2023 schon fest verplant. Noch im Januar zeigte sich der zuständige Ausschuss zuversichtlich und erklärte ausdrücklich, sich für ein weiterführendes Beratungsangebot einsetzen zu wollen bzw. dieses gewährleisten zu können. Sozialstadtrat Carsten Spallek überraschte uns nun mit einem Brief (Antwortschreiben Runder Tisch Habersaathstraße vom 23.03.2023), diesem Vorhaben eine endgültige Absage zu erteilen. In überschaubar emphatischer Art argumentierte er vorm Ausschuss (Sitzung vom 18.04.2023), ein Beratungsangebot sei für alle vorhanden, es müsse sich eben an die zuständigen Kostenträger gewandt werden. Damit attestiert er sich selbst nicht nur mangelnde Mitmenschlichkeit, sondern auch wenig Kenntnis darüber, welche Aufgabenbereiche soziale Arbeit, neben der Unterstützung bei Wohnungssuche oder dem Beantragen von Sozialleistungen, noch abdeckt. Ursprünglich war der Miteinzug eines sozialen Trägers sogar die Bedingung dafür, dass den ca. 60 damals obdachlosen Menschen die leerstehenden Wohnungen in der Habersaathstraße zum Wohnen frei gegeben werden konnten. Die Arbeit von den Mitarbeiter*innen der Neuen Chance e.V. vor Ort wird von vielen im Haus genutzt und ein Fortbestehen des Angebots ausdrücklich gewünscht. Auch wenn aus der damaligen Bedingung oder aus dem Willen der BVV kein Rechtsanspruch entsteht, so sollte es doch ein Anspruch auf Vertrauensschutz geben. Dieser wird hier gebrochen.

Ähnlich dem Prinzip von Housing First, ist die Habersaathstraße nach der Besetzung im Dezember 2021 durch Obdachlose und deren darauffolgender Einzug, erfolgreich gestartet. Die Begleitung von den Sozialarbeitenden war eine große Stütze und notwendig, um die vielfältigen Probleme, Sorgen und Bedürfnisse der neuen Bewohner*innen anzugehen. Nach zum Teil vielen Jahren auf der Straße wieder in ein „normales Leben“ zu starten, das heißt zum Beispiel Arbeit oder Ausbildung zu finden, soziale Teilhabe zu ermöglichen, Probleme wie Sucht, Schulden oder psychische Erkrankung anzugehen, braucht viel Kraft und Ausdauer und mancher Rückschlag muss überwunden werden. Dieser lange Prozess erfordert Mut und verdient eine Menge Respekt! Dabei Unterstützung, zum Beispiel von Sozialarbeitenden zu erfahren, trägt zum nachhaltigen Gelingen bei. Wie zuletzt im Tagesspiegel zu lesen (Artikel: Bilanz der Berliner Kältehilfe „Das System ist überfordert“) scheinen psychische Erkrankungen und Suchtproblematiken bei obdachlosen Menschen sogar anzusteigen, aber auch eine vermehrte Pflegebedürftigkeit ist zu beobachten. All das löst sich nicht durch eine Wohnung auf, sondern braucht entsprechende Fürsorge. Soziale Arbeit ist eine entscheidende Schnittstelle diese Fürsorge zu bekommen. Verlässlichkeit und Kontinuität sind unerlässlich auf diesem Weg. Durch auf der einen Seite ‚Vertrauen schaffen‘, auf der anderen Seite ‚Vertrauen fassen‘, kann der Ausblick auf Zukunft entstehen – das Recht eines jeden Menschen. Verlässlichkeit und Kontinuität entsteht aber auch durch die offizielle Unterstützung der Politik, des Bezirksamtes, was dieses Beratungsangebot finanziert und damit erst ermöglicht– oder eben nicht, wenn das Geld plötzlich gestrichen wird.

Das Fehlen des Trägers Neue Chance e.V. vor Ort wird die neuen Bewohner*innen in Zukunft aber noch vor andere Probleme stellen. Ein Beispiel: Die Zustellung ihrer Post fand über eine Sammelstelle im Büro des Trägers statt. Wenn dieses fehlt, können mitunter wichtige Briefe nicht zum*zur Empfänger*in gelangen. Im Falle einer Bürgergeldempfänger*in kann dass gravierende Folgen haben. Nicht zum Termin zu erscheinen, oder angeforderte Unterlagen nicht einzureichen, gilt beim Jobcenter als eine Vernachlässigung der Mitwirkungspflicht. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Brief die*den Empfänger*in erreicht hat oder nicht. Es folgen Sanktionen, eine Sperre und das heißt am Ende kein Geld.

Nicht zuletzt der Mieterrat der Langzeitmieter*innen hat sich von Beginn an für einen sozialen Träger im Haus ausgesprochen und immer darauf gedrängt, dass es ein Nachfolgeangebot geben müsse, sollte es zu einem Ende der Neuen Chance e.V. kommen. Dies ist unerlässlich um ein gutes Zusammenleben für alle Bewohner*innen gewährleisten zu können – Bestandsmieter*innen, ehemals Obdachlose, Ukrainische Bauarbeiter und ihre Familien, die aus dem Krieg geflohen sind.

Welche Anstrengung von Seiten der Politik wird jetzt unternommen, zum Gelingen des Projekts beizutragen, den Leuten einen Neustart weiter zu ermöglichen? Wie wird dass Bezirksamt dafür Sorge tragen, dass die Menschen nicht wieder zurück auf die Straße müssen, sollte es zum Abriss kommen? Auf welche Verlässlichkeit dürfen diese Menschen vertrauen, wenn eine Zusagen von Dr. Schlese, Leiter des Sozialamts Berlin-Mitte, alle neuen Bewohner*innen werden sich in der Habersaathstraße polizeiliche anmelden können, einfach ohne Begründung zurückgenommen werden kann? Für die meisten wäre gerade die polizeiliche Anmeldung die Eintrittskarte in ein besseres Leben gewesen. Denn nur mit Meldeadresse ist eine Arbeitsaufnahme möglich, also Geld zu verdienen, um wieder selbstbestimmter ein eigenes Leben zu gestalten. Auch um eine Wohnung zu finden im Falle des Abrisses, ist sie eine existenzielle Grundlage. Dass dieses Versprechen gebrochen wurde wiegt immer noch schwer und sorgt für Frust und Wut bei den Bewohner*innen. Und ganz sicher sorgt es nicht für Vertrauen zum Sozialamt-Mitte oder anderen Kostenträgern, auf die sie nun vom Bezirk so selbstgerecht verwiesen werden.

Juristische Begrifflichkeiten hin oder her, nach 16 Monaten, die diese Menschen sich nun in den ersehnten vier Wänden eingerichtet haben, dort einen Rückzugsort und ein Zuhause finden konnten, immer noch von „halten sich da auf“ und eben nicht von „wohnen dort“ zu sprechen, ist schlicht respektlos – und das als Stadtrat für Soziales und Bürgerrechte. Würde das Bezirksamt es ernst meinen mit dem Projekt und der Hilfe für die ehemals Obdachlosen, müsste die Beratungsleistung vor Ort nicht gekürzt sondern ausgebaut werden, psychologische Beratungsstelle inklusive. Ist die Aussage „Berlin will bis 2030 Obdachlosigkeit beenden“, wie aus Politiker*innenkreisen immer wieder zu hören ist, ernst gemeint, wäre die Auflösung eines Projekts wie die Habersaathstraße ein skandalöser Fehler. Mit dem Ende des Beratungsangebots vor Ort, wurde der Wille zum Auflösen dieses Projekts doppelt unterstrichen.

Kontakt: betroffene-habersaath@riseup.net

April 2023

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